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Migranten in Mainz – Gekommen um zu bleiben

Text: Ejo Eckerle
Fotos: Elisa Biscotti

Was dabei herauskommt, wenn das Thema Migration durch das Mahlwerk der öffentlichen Meinung gedreht wird, hat die öffentliche Diskussion der letzten Monate gezeigt. Wir erzählen vier Erfolgsgeschichten von Menschen, die angekommen sind, um zu bleiben.

Wer genau hinhört, entdeckt den spanischen Akzent, der in der rheinhessisch gefärbten Sprache von Miguel Vicente immer noch durchschlägt, wenn er davon erzählt, was und wer ihn geprägt hat. „Im Leben spielen andere Menschen immer eine Schlüsselrolle. Es gibt immer einen, der dir eine Türe öffnet oder eine Chance gibt.“ Bevor er selbst diese Erfahrung machen konnte, war es sein Vater, der die Gunst der Stunde nutzte – und mit ihm viele seiner Landsleute.
Anfang der 60er Jahre herrscht Vollbeschäftigung in Deutschland. Die Wirtschaft sucht händeringend nach Personal. Auch in Mainz ist der Arbeitsmarkt so gut wie leergefegt. Der industrielle Platzhirsch, das Glaswerk (die heutige Schott AG), damals noch unter dem Namen „Jenaer Glaswerke“ bekannt, kann seinen schnell wachsenden Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr decken. Und so kommen nach einer Anwerbeaktion 1960 die ersten „Gastarbeiter“ in Mainz an. Darunter sind 76 Spanier. Einer von ihnen ist Miguel Vicentes Vater Sotero Vicente. Sein Sohn, der heute 46-jährige, kommt erst einige Jahre später nach, im Alter von fünf Jahren. Für den Jungen ist es ein doppelter und sehr einschneidender Tapetenwechsel: Er findet sich in einem anderen Land wieder, dessen Sprache er weder versteht noch spricht. Und er trifft auf zwei ihm unbekannte Menschen, seine Eltern.

Der Schulschwänzer macht Karriere

Dieses Schicksal ist typisch für die Kinder der ersten Migranten-Generation. Häufig folgen auf die Familienväter erst die Frauen und dann der Nachwuchs. Familie Vicente mit ihren vier Kindern machte da keine Ausnahme. Allein aus Vicentes Heimatdorf lebten zu Boom-Zeiten 30 Familien in Mainz. Inzwischen sind sie alle wieder in den sonnigen Süden zurückgekehrt – bis auf Miguel Vicente. Seit 1999 gehört er dem Mainzer Stadtrat an, nimmt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD politische Verantwortung wahr. Vicente ist studierter Physik-Ingenieur, der erste Akademiker in seiner Familie. Er ist das bis heute auch geblieben. Erzählt er von seinen schulischen Anfängen, möchte man es kaum glauben: Zu Beginn seiner Schulkarriere glänzte Miguel Vicente vor allem durch Abwesenheit. Der stille Protest eines Kindes gegen eine Umwelt, die ihn bestenfalls ignorierte. Zwar verließ er jeden Morgen brav das Haus, doch im Unterricht kam er nie an. Miguel Vicente trieb sich lieber in der Stadt herum. Nach drei Wochen flog der Schwindel auf: „Es gab ziemlichen Ärger, mein Vater war immer sehr streng.“
Glück und Zufall wollen es, dass Vicente nach einem Jahr an eine Lehrerin gerät („Frau Schäfer, ich werde den Namen nie vergessen“), die sich des schüchternen Jungen annimmt und versteht, welchen Druck er aushalten muss. Zweimal die Woche besucht er zusätzlich die spanische Schule. Schließlich gehen Politik, Gesellschaft und vielfach die Betroffenen selbst zu dieser Zeit noch davon aus, dass sie in Deutschland nur ein zeitlich begrenztes Gastspiel absolvieren. Daher sollten die Kinder den Anschluss ans heimatliche Bildungssystem nicht verlieren. „Mischael“, wie ihn seine neue Mentorin konsequent nennt, werden zweimal in der Woche die Hausaufgaben erlassen. Die Pädagogin nimmt Rücksicht auf seine schwachen Deutschkenntnisse, aber vor allem glaubt sie an die Fähigkeiten dieses Jungen. Es ist die erste Chance seines Lebens. Allmählich entwickelt sich aus dem Schulschwänzer ein disziplinierter Schüler, der gute Noten nach Hause bringt. „Trotzdem kam ich nur auf die Hauptschule.“ Eine Empfehlung für das Gymnasium bekommt er nicht. „Wenn man sich die Biografien von Migranten betrachtet, dann entdeckt man häufig, dass an solch entscheidenden Wendepunkten das Vertrauen in die Fähigkeiten nicht vorhanden war.“ Vicente musste den Umweg über den zweiten Bildungsweg nehmen, um sein Ziel zu erreichen. In seinem heutigen Beruf als Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Beiräte für Migration und Integration in Rheinland-Pfalz führt er das fort, was in seiner eigenen Biografie angelegt ist. In sogenannten „Parallelwelten“ zu leben, war und ist für ihn weder belastend noch stellte es sich für ihn als Lebens- oder Karrierehindernis heraus. „Ich habe in einer sehr spanisch geprägten Welt gelebt, aber hatte daneben auch immer meinen deutschen Freundeskreis. Das ließ sich wunderbar kombinieren. Und ich habe auch beide Sprachen gepflegt und gelernt. Ich fühle mich im Deutschen wie im Spanischen zu Hause“.

Einst junger Pionier, jetzt Bar-Chef

Auch Artjom Avetisyan kam in dieses Land als Kind, auch er zog seinen Eltern hinterher. Allerdings wurde für ihn dazu ein eiserner Vorhang zur Seite geschoben. Manchmal lohnt es sich, darüber nachzudenken, was geschehen wäre, wenn die Weltgeschichte einen anderen Verlauf genommen hätte. Sicher ist so viel: Artjom säße uns dann wohl kaum in der Kneipe fiszbah in der Mainzer Neustadt gegenüber. Der 38-jährige Armenier wäre vielleicht längst hochdekorierter Offizier der ruhmreichen Roten Armee oder einflussreicher Apparatschik im Machtgefüge der allmächtigen Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Bis zu seinem 10. Lebensjahr lebte er mit Mutter und Geschwistern in Moskau, trug stolz das rote Halstuch eines jungen Pioniers: „Mein Traum war es, Kampfpilot zu werden und die Feinde der Sowjetunion zu vernichten“, fügt er mit einem kaum verhohlenen Grinsen hinzu.
„Paramilitärische Spielchen“, wie es Artjom heute nennt, füllen seine Ferientage im Sommerlager der kommunistischen Nachwuchsorganisation aus. Artjom erlebt eine romantische Kindheit, angefüllt mit Heldenträumen, Eishockeyspielen und jeder Menge Freizeitspaß im straff organisierten sozialistischen Kinderkollektiv.
Die Wende bringt ausgerechnet ein Deutscher, der zweite Ehemann seiner Mutter Irina. Er arbeitet in Moskau als Bauingenieur und nimmt seine Frau 1980 mit nach Deutschland. Die Kinder, Artjom und seine ältere Schwester, ziehen drei Jahre später nach. Aus der grauen Megametropole Moskau beamt ihn das Schicksal in die niedersächsische Provinz, die für ihn trotz allem so viel bunter und heller strahlt als seine Heimatstadt. „Ich kann mich noch gut an diese ersten Eindrücke erinnern und bekomme jetzt noch eine Gänsehaut dabei.“ Zehn bis 15 Sätze aus der deutschen Alltagssprache müssen er und seine Schwester täglich lernen und aufsagen, das gibt ihnen ihre Mutter auf. Artjom besucht zusätzlich Förderunterricht und ist nach einem Jahr so weit, dass er die neue Sprache fast fehlerfrei beherrscht. Das strenge russische Erziehungsregime immer noch in den Knochen, fragt er seine Mutter: „Mama, ist das wirklich eine Schule, in die ich da gehe?“ Was Artjom mit „ganz normalem schulischen Wahnsinn“ beschreibt, sind die jungmännlichen Revierkämpfe auf dem Pausenhof, die mitunter handfest ausgetragen werden.
Artjom ist inzwischen längst angekommen in diesem Land, nach zahlreichen Umzügen und beruflichen Stationen verwurzelt im Mainzer Szeneleben. Dass er immer noch einen russischen Pass besitzt, hat weniger mit Patriotismus zu tun, als der Furcht vor den Mühlen der Bürokratie, in die er geraten würde, wollte er diesen Zustand ändern.

Ein robustes Selbstbewusstsein zeichnet Artjom aus. Das findet Ausdruck in der Überzeugung, alles könnte gelingen, wenn man anstehende Aufgaben anpackt. Sein Beruf, Geschäftsführer der fiszbah, zeugt von dieser Haltung, auch wenn er ironisch anmerkt: „Irgendwann brachte Mama mit ihrem Bruder die Kohle an und hat mich dann versklavt.“ Das ungewöhnliche Gespann, Mutter und Sohn, schmeißen heute einen Laden, der zu einer festen Größe der Neustädter Kneipenkultur geworden ist. Mit seiner Frau führt Artjom eine Fernbeziehung. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin in Berlin. Denkt er daran, keimt in ihm immer mal der Drang nach einem Leben in einer weltläufigen Metropole auf. Natürlich weiß er, dass sich Moskau in einen umweltverschmutzten, überteuerten Moloch verwandelt hat, die politischen Verhältnisse in Russland Anlass zur Sorge geben. Aber dennoch lebt in seinem Herzen ein romantisches Bild weiter, von einer strahlend schönen großen Stadt mit einem kleinen, stolzen, jungen Pionier…

„Bildung ist die Säule der Integration“

Träume treiben uns an: die Phantasie von einem besseren Leben, einer freiheitlichen Existenz, die einschließt, dass man den Beruf ergreifen kann, den man möchte. Das alles klingt selbstverständlich. Für Peimaneh Nemazi (heute trägt sie zusätzlich den Namen ihres deutschen Mannes, Lofink) war das überhaupt nicht gewiss, als sie 1984 ihr Heimatland, den Iran, verlässt. Sie spricht bis heute ungern über die genauen Umstände, deutet aber an, dass die politischen Verhältnisse nach der iranischen Revolution den Ausschlag gaben. Zurück bleiben Geschwister und Eltern. Sie ringt lange mit ihrem Entschluss. Peimaneh Nemazi-Lofink entstammt der iranischen Mittelschicht und einem bildungsbürgerlichen Akademiker-Haushalt: Gemeinsam mit ihren Freundinnen fährt die 18-Jährige zu Badeferien ans Kaspische Meer. Ein heiteres, sorgenfreies Leben. Die junge Frau ahnt, dass es damit bald vorbei sein könnte.
Ihr ursprünglicher Plan in die USA auszureisen scheitert, da sie für die Vereinigten Staaten kein Visum erhält. Heute ist es froh, dass es anders gekommen ist: „In Deutschland genießen Bildung und berufliche Ausbildung einen höheren Stellenwert.“
Bildung und ein ausreichender finanzieller Hintergrund: Die Startvoraussetzungen im neuen Land sind günstig, Peimaneh nutzt sie. Sie organisiert sich ihren Deutschunterricht selbst, bezahlt die Lehrstunden aus eigener Tasche. Anschließend studiert sie an der Mainzer Universität Pädagogik. Sie ist klug genug, um zu wissen, dass man diese glücklichen Umstände nicht auf alle Migranten übertragen kann, die zu uns kommen. Längst ist das Thema Migration und Bildung zu ihrer Lebensaufgabe geworden. Als Geschäftsführerin steht sie dem Institut zur Förderung von Bildung und Integration (INBI) vor, das sie selbst mitbegründet hat. Ihr Einsatz dort gilt vor allem benachteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die Motivation für diese Arbeit fasst sie so zusammen: „Der gleichberechtigte Zugang zu Bildung ist eine wichtige Säule zur Integration aller Menschen.“ Ihre eigene Lebensgeschichte hat sie sensibilisiert für gesellschaftliche Schieflagen. So wundert sie sich bis heute, wenn sie auf Konferenzen Kollegen anderer Bildungseinrichtungen trifft. Nicht selten ist sie die einzige Frau in der Runde und noch viel häufiger die einzige mit Migrationshintergrund.

Tanzen als Lebenshilfe

Es gibt begründeten Anlass zur Hoffnung, dass das Bild von der nur selten anzutreffenden Frau mit Migrationshintergrund in Führungspositionen bald zurechtgerückt werden muss. Der Grund dafür sind immer mehr junge, gut ausgebildete Frauen wie die 18-jährige Ece Bas aus Budenheim. Gerade hat sie ihr Abitur bestanden. Noch ist nicht klar, ob sie Management oder Medizin studieren wird. Das unbeschriebene Blatt namens „Leben“ verspricht ihr noch viel. Ece ist in Mainz geboren und aufgewachsen. Deutsch lernte sie bereits im Kindergarten, türkisch, die Sprache ihrer Eltern, zu Hause. Den Ort zum Interview hat sie bewusst gewählt. Das Café Novum am Ballplatz gehört ihrem älteren Bruder Cüneyt. Der Laden brummt, in Eces Leben geht es ähnlich turbulent zu. Dreimal die Woche trainiert sie ihre eigene Hip-Hop-Formation. Das sind 14 Jugendliche zwischen 15 und 19 Jahren aus der Neustadt. Die Truppe tritt unter dem etwas kryptischen Namen A.C.I.M. (Abnormal Crazy Inimitable Monkeyz) auf. Ece achtet darauf, dass die Kids die Schule nicht vernachlässigen: „Wer schlechte Noten schreibt, darf nicht mehr zum Training, aber viele sind durch das Tanzen damit gleichzeitig besser in der Schule geworden.“ Für die Jungs und Mädchen ist sie Übungsleiterin, große Schwester, und wenn‘s mal klemmt, auch Nachhilfelehrerin. Ihr Engagement wurde mit dem sogenannten Gleichstellungspreis des Olympischen Sportbundes geehrt. Ihre Laudatorin, Ilse Ridder-Melcher, die Vizepräsidentin des Olympischen Sportbundes, charakterisiert Eces Arbeit bei der Preisverleihung so: „Man könnte sogar sagen, sie leistet sozialpädagogische Lebenshilfe. Mit ihrer Begeisterung für das Tanzen löst sie so spielerisch eine große Integrationsaufgabe.“ Ece, der selbst so viele Chancen geboten wurden, gibt damit etwas zurück an andere, die Unterstützung gut gebrauchen können.

Während Miguel Vicente, Peimaneh Nemazi-Lofink und Artjom Avetisyan ihren Weg mit viel eigener Energie bereits gefunden haben, ist noch nicht entschieden, wo Ece einmal ankommt in ihrem Leben. Und das sind nur Vier von 32.000 Nicht-Deutschen in Mainz. Nimmt man noch jene mit doppelter Staatsbürgerschaft hinzu, gibt es sogar 50.000 Mainzer mit Migrationshintergrund. Fast die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren sind auch dabei. Wenn inzwischen fast ein Viertel der Bevölkerung einer Stadt fremde Wurzeln hat, erübrigen sich aufgeregte Debatten über die Frage, wie viel Migration eine Gesellschaft verträgt. Spannender und wichtiger wird sein, wie sich mit ihnen gemeinsam die Zukunft gestalten lässt. Denn dass sie bleiben werden, das ist sicher.