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Im 2×5-Interview: Sozialdezernent Kurt Merkator zur Flüchtlingssituation & Co.

MerkatorGanzgroß

Interview David Gutsche  Foto Jana Kay

Beruf
Kommen Sie derzeit überhaupt noch zur Ruhe?
Wir haben ja noch viele andere Themen außer Flüchtlingen, aber die Unruhe ist derzeit schon größer als sonst. Knapp über 1.000 Flüchtlinge haben wir jetzt in den Gemeinschaftsunterkünften und ungefähr nochmal 800, die schon in Wohnungen wohnen. Wir hatten Anfang des Jahres mit 600 Leuten in 2015 gerechnet, mittlerweile gehen wir aber von 1.200 aus und wenn die bundesweiten Zahlen sich fortsetzen, werden es nächstes Jahr 2.000 Flüchtlinge werden, die wir aufnehmen.

Falls die Grenzen nicht geschlossen werden…
Mainz ist und bleibt offen für Menschen, die Schutz bei uns suchen. In den letzten Tagen und Wochen haben wir aber erleben müssen, dass die Aufnahmefähigkeit der Kommunen vor allem aufgrund der Geschwindigkeit des Zustroms an ihre Grenzen gerät. Ohne eine gemeinsame europäische Anstrengung wird die Bewältigung dieser Herausforderung nicht gelingen. In der Einführung vorübergehender Grenzkontrollen an einigen Grenzübergängen sehe ich ein Signal der Bundesregierung an die europäischen Partner, dass Deutschland nicht im Alleingang alle Flüchtlinge aufnehmen kann.

Wie läuft es mit den Unterkünften?
Da es momentan in den Erstaufnahmen einen riesigen Druck gibt, weil die so überlaufen sind, ist es schwer, adäquate Unterkünfte zu finden. Wir sind bisher ohne Zelte ausgekommen. Und wir wollen ja nach spätestens einem Jahr, dass die Flüchtlinge in eigene Wohnungen kommen. Es wird aber auch hier immer schwerer, welche zu finden. Das zweite Problem ist – da haben wir aber auch vom Land grünes Licht gekriegt – wir sind personell nicht so besetzt, dass wir alle Aufgaben befriedigender erfüllen können. Da müssen wir nachziehen und sind auch dabei.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit anderen Initiativen?
Wir haben ja alle das gleiche Ziel: den Flüchtlingen zu helfen. Aber man muss das koordinieren. Am Anfang waren es eher chaotische Verhältnisse, da haben wir einfach sämtliche Röhrenfernseher von Mainz abgeliefert bekommen. Und da gab es Leute, die stellen das Zeug einfach vor die Tür und fahren wieder weg. Oder geben Fahrräder ab, die kaum verkehrssicher sind. Im Moment läuft unsere Hilfe über die Mainzer Ehrenamts- agentur, aber wir würden gerne ein komplexeres System schaffen, wo wir auch gerne andere Initiativen mitnehmen würden.

Was steht sonst noch an im Sozial-Dezernat?
Ich nenne mal zwei Beispiele: Wir müssen acht bis zehn neue Kitas bauen, was gar nicht so einfach ist. Dann das Thema Ganztagsbetreuung für die 6- bis 10-Jährigen. Wo können wir die betreuenden Schulen, Ganztagsschulen verstärken, um dem Ganztags-Gedanken gerecht zu werden? Dann will diese Stadt jede Menge neue Wohnungen bauen, da sind wir auch mit dabei, um zu sagen: Wir brauchen geförderten Wohnraum! Und noch ein Problem: Wir haben einen großen Bedarf, was Erziehungshilfen angeht. Immer mehr Eltern, die mit ihren Kindern Probleme haben. Oder Mainz hat 7.000 Langzeitarbeitslose. Das steigt auch alles an und da redet kaum einer drüber.

Zum Mensch:

Sie sind ein Urgestein in der Mainzer Politik. Würden Sie es heute wieder den Weg einschlagen?
Ja schon. Ich bin in Mainz-Finthen geboren. Meine Vorfahren waren Sozialdemokraten, aber nicht so sehr politisch engagiert. In meiner Jugend war ich sehr dem linken Flügel zugetan. Zuhause hab ich als Kommunist gegolten. Ich bin in der Zeit des Vietnamkriegs aufgewachsen: Massentribunal, Studentenunruhen. Die 68er, da war ich 16, da hat man schon mitgedacht politisch. Ich hab auch Glück gehabt, dass ich einige sehr gute Lehrer hatte, die uns politisch gefördert haben. Irgendwann hat mein Opa gesagt: Red‘ nicht immer so viel, mach was! Da bin ich dann mit 25 in die SPD eingetreten.

Wie sehen Sie die Lage des Sozialstaates derzeit?
Was Altersarbeit und Langzeit-Arbeitslosigkeit betrifft: Dass bundesweit Leistungen abgebaut werden, zum Beispiel durch die Agenda 2010, hat dafür gesorgt, dass manche Leute nun zu uns kommen und Ersatzleistungen brauchen, um überleben zu können. Dann die Liberalisierung des Arbeitsmarktes, also dass man mehr befristete Verträge zulässt und die Zeitarbeitsfirmen gestärkt hat, dass man den zweiten Arbeitsmarkt tot gemacht hat, das ist schon heftig. Die Sozialleistungen, die oben nicht mehr gegeben werden, muss man jetzt unten auffangen. Die Wohngeld-Anträge steigen, auch die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen und natürlich die Pflege. Wir haben da übrigens eine verdeckte Armut in der Stadt. Es gibt immer mehr Leute, die gehen lieber Flaschen sammeln oder suchen sich noch einen Job nebenher. Ich kenne auch einen, der trägt die ganze Woche irgendwelche Blättchen aus, der ist schon lange Rentner. Der macht das auch nicht, weil er so einen Spaß daran hat, spazieren zu gehen.

Womit können Sie sich gut entspannen?
Ich pflege meinen Freundeskreis, den ich schon sehr lange habe. Wir gehen wandern oder ich mache noch immer in einem kleinen Ortsverein Fastnacht. Und privat habe ich eine Frau, die es auch manchmal ganz gerne hat, wenn ich zu Hause bin. Ich lese auch viel und gern. Ich brauch aber auch Papier in der Hand. Ich lese aber auch auf diesem Kästchen da, aber ich hab morgens schon immer gerne eine Papierzeitung in der Hand. Ich lese die lokale AZ, aber ich lese auch alles was ich sonst so kriege, über sensor, Mainzer usw. Und eins meiner großen Hobbys ist: Ich bin Vinyl-Sammler.

Welche Musik?
Rock und Liedermacher. Und je älter ich werde, umso mehr Jazz auch. Ich halte viel auf Neil Young und hab die meisten Stones-Tourneen gesehen. Weil live sind die Stones gnadenlos gut. Hab den Virus an meine Tochter weitergegeben. Die hat sich jetzt einen Schallplattenspieler gekauft.

Was würden Sie der jüngeren Generation – vor allem Politikern – empfehlen?
Man zerstreitet sich im Moment zu viel im ganz Kleinen. In den großen Dingen bräuchte man auch wieder gemeinsame Haltungen. Ob das jetzt der Zustand von Karstadt auf der Ludwigsstraße ist mit ECE, oder was auch immer, da will ich mich gar nicht festlegen. Aber jeder weiß, wenn Karstadt jetzt ein Problem bekommt und zugemacht wird und da steht dann eine Bauruine neben dem Dom – da muss irgendwas passieren. Und da braucht man Gemeinsamkeiten und da zerstreiten wir uns zu oft. Und was ich noch mit Erschrecken sehe ist, dass man Politik nicht über Sachthemen austrägt, sondern dass man persönlich wird. Dass man sich über Medien oder weiß der Teufel persönlich beleidigt. Das ist ein Stil, den ich überhaupt nicht mag. Da muss man aufpassen. Da kommt nichts Gescheites bei raus.